Nächste Woche im Kino
In «A Chiara» spielt die echte Familie der Hauptdarstellerin mit – der Film blickt tief ins Herz der ’Ndrangheta
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In «A Chiara» versucht eine 15-jährige Kalabresin, die Mauer des Schweigens in ihrer Familie zu durchbrechen. Der Film besticht durch seine junge Hauptdarstellerin.
Dario Pollice
An der Stiefelspitze Italiens klafft ein schwarzes Loch. Dieses Loch saugt alle Ebenen der Gesellschaft in seine Abgründe hinein und expandiert von Kalabrien aus über die ganze Welt. Nur ist von diesem Loch namens ‘Ndrangheta auf den ersten Blick nichts zu sehen und nichts zu hören, denn es ernährt sich von der Verschwiegenheit.
Auch Chiara, die 15-jährige und titelgebende Protagonistin des Spielfilms «A Chiara», bemerkt zunächst nichts davon. Die junge Kalabresin ist eine normale Teenagerin: sie hört Trap-Musik, surft auf Instagram, und stiehlt sich mit ihren Freundinnen davon, um zu rauchen. Am 18. Geburtstag ihrer Schwester ahnt Chiara jedoch, dass unter der oberflächlichen Familienidylle etwas Dunkles schwelt.
Als der Familienvater plötzlich verschwindet, und die Teenagerin gegen eine Mauer des Schweigens stösst, macht sie sich auf die Suche nach Antworten – und steigt dabei mitten ins klaffende Loch hinein.
Das Sittengemälde einer Stadt
Mit seinem dritten Film, der im Oktober den Hauptpreis am Zürich Film Festival gewann, kehrt Jonas Carpignano erneut in die kalabrische Hafenstadt Gioia Tauro zurück und somit zum selben Handlungsort seiner vorherigen Filme. Während der Regisseur in «Mediterranea» (2015) den Blick auf Immigranten richtete und in «A Ciambra» (2017) die Gemeinschaft der Roma porträtierte, widmet er sich nun der Mafia. Schliesslich gilt der Hafen der Stadt als einer der weltweiten Hauptumschlagplätze von Kokain.
«A Ciambra» zeigt die Welt des 14-jährigen Roma-Jungen Pio. Italien schickte den Film 2017 ins Oscar-Rennen für den Besten fremdsprachigen Film.
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Mit «A Chiara» komplettiert er seine Trilogie über Gioia Tauro und schafft ein Sittengemälde der Hafenstadt. Das Resultat ist ein komplexes Bild mit vielschichten Figuren jenseits von simplen Kategorien wie Gut und Böse.
Auch in seinem dritten Film bleibt der 38-Jährige seiner Handschrift treu. Diese hat bereits zuvor Vergleiche mit dem italienischen Neorealismus der 1940er Jahre hervorgerufen. Tatsächlich besitzen die Werke von Carpignano – Sohn eines Italieners und einer Afroamerikanerin – wie die stilbildenden Filme des Neorealismus einen dokumentarischen Charakter.
Dieser Eindruck entsteht nicht zuletzt dadurch, dass Carpignano wie die Neorealisten auf Laiendarsteller zurückgreift. Der Regisseur zog zwecks Recherchen für seinen ersten Film 2010 nach Gioia Tauro und wurde dort sesshaft. Sämtliche Protagonisten seiner Filme fand er vor Ort. Carpignano verbringt jeweils viel Zeit mit seinen Darstellern und baut so ein Vertrauensverhältnis auf.
Wie die Neorealisten der 1940er Jahre setzt Carpignano auf Laiendarsteller. «Fahrraddiebe» (Vittorio De Sica, 1948) gilt als Höhepunkt des italienischen Neorealismus.
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Swamy Rotolo, welche die 15-jährige Chiara mimt, lernte der Filmschaffende kennen, als sie für seinen zweiten Film vorsprach. Chiaras Vater, ihre Schwestern, ihre Cousins und Tanten werden allesamt von Swamys realen Familienmitgliedern gespielt. Entsprechend natürlich wirkt die Familiendynamik auf der Leinwand
Der Mikrokosmos der Mafia
Die Stärke von «A Chiara» ist, dass sich der Film von den üblichen Erzählkonventionen in Mafia-Filmen und -Serien abhebt. Diese stellen häufig die Gewalt, den Materialismus der Gangster oder die globalen Verästelungen der kriminellen Organisation ins Zentrum. Carpignano hingegen nimmt eine nahezu mikroskopische Perspektive ein. Fast gänzlich ohne Gewaltdarstellungen zeigt er das Innenleben einer fünfköpfigen Familie, und wie deren Verwurzelung mit der Kriminalität zur Belastung für alle wird.
Damit blickt Carpignano tief ins Herz der ‘Ndrangheta, denn die Familie ist das Kernelement der kalabrischen Mafia. Im Gegensatz zur sizilianischen Cosa Nostra oder der neapolitanischen Camorra rekrutiert sich die ‘Ndrangheta hauptsächlich aus Blutsverwandten, weshalb es auch wenige Kronzeugen aus ihren Reihen gibt.
Getragen wird der Film von einem fantastischen Laienensemble, allen voran der 15-jährigen Swamy Rotolo. Die unruhige Handkamera begleitet Chiara auf Schritt und Tritt bei ihrer Suche nach Antworten und ihrem Versuch, die Mauer des Schweigens, die «Omertà», zu durchbrechen.
Nähe und zugleich klaustrophobische Enge
Carpignano und Kameramann Tim Curtin setzen dies kongenial um. Während der Familienfeier zu Beginn des Films konzentriert sich die Kamera hauptsächlich mit Grossaufnahmen auf die Gesichter der Figuren. Das schafft Nähe zur Familie, aber auch eine klaustrophobische Enge.
Trailer zum Film «A Chiara» .
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Im Verlauf des Films weitet sich der Bildausschnitt schliesslich aus. Je mehr Chiara über ihre Familie in Erfahrung bringt, umso mehr sieht man von ihrer Umgebung: Chiaras Quartier, die Siedlung der Roma, das Meer und die Kräne des Containerhafens. Carpignano erzählt dabei stets ohne Pathos, dafür mit viel Empathie für seine Figuren.
«A Chiara» (ITA/FRA 2022, 121 Min.); Regie: Jonas Carpignano; ab Donnerstag im Kino.
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